Es ist Dezember. Dezember 2009 und einer dieser fürchterlichen, dauerdunklen typisch deutschen Wintertage. Es regnet, es ist klamm, lichtlos und trüb und niemand ahnt heute, dass es noch ein richtig knackiger Winter mit echtem Schnee werden soll. Aufstehen kostet morgens schon länger grosse Überwindung und Weihnachten kam wieder einmal überraschend plötzlich. Es ist einer dieser skurrilen Tage ganz kurz vor dem Fest. Frei nach Rilke: Wer jetzt kein Geschenk hat, kauft auch keines mehr. Wer jetzt im nassgrauen Deutschland ist, wird es lange bleiben, wird schlafen, essen, lange Blogs schreiben.
Ich sitze im Büro und versuche bereits seit einigen Stunden festzustellen, ob es schon wieder dunkel ist oder noch immer. Pling macht es, da kommt eine Email. Die deutsche Gruppenauslosung für die Weltmeisterschaft 2010 in der Türkei steht fest. Argentinien, Serbien, Australien, Angola, Jordanien und Deutschland. Puuuhh, schwere Gruppe denke ich gerade noch, als mein Blick auf den Austragungsort fällt. Kayseri.
Kayseri, Kayseri, hmmm, KAYSERI? Nie gehört in meinem ganzen Leben. Wo ist das? Was ist das? Wie alles von dem ich überhaupt keinen blassen Schimmer habe, läßt mich der Name und meine eigene Ahnungslosigkeit neugierig werden. Her mit den Infos, mit allen und zwar schnell. Suchmaschinen liefern erste Hinweise. Ufff. Eine megaboomende Industriemetropole hatte ich ehrlich gesagt nicht erwartet, eher eine kleine, romantische, historische Stadt aus osmanischen oder noch besser byzantinischen Zeiten. Wie ich damals im Dezember auf diese absurde Idee gekommen bin, weiß ich nun leider nicht mehr, vielleicht erfolgreicher Teil der allgegenwärtigen Tourismuskampagne der Türkei in Deutschland? Lauschige Beaches, Segelboote, weißer Sandstrand, historische Säulen, jahrtausendealte Geschichte im Überfluß. Gut, all das wird in Kayseri so definitiv niemand vorfinden, das wird schnell klar. Mitten im landkartlichen Nichts gelegen und auf einer Hochebene, mal eben locker direkt neben einem schneebedeckten 4000er platziert. Deutschlands höchster Berg ist keine 3000 hoch, schießt es mir durch den Kopf. Wow, das sieht atemberaubend aus, das will ich in Wirklichkeit sehen. Auch weil ich mich noch gut an die spaßigen Auswirkungen dünner Höhenluft auf mein Gehirn in Sunspot, New Mexiko erinnere. Und die angedrohten dauersonnigen 40°C im Schatten im Monat August scheinen im kühlen, dunklen, deutschen Dezember anziehender, als sie es vielleicht sollten.
Kayseri vor dem Erciyes: Bild von Hasan Sami Bolak via tr.wikipedia.org
Aber keiner will mit, alle sind uninteressiert bis bocklos. Gruebler zieht unerklärlicherweise die Häuserschluchten New Yorks den tiefen zentralanatolischen Landschaftseinschnitten vor, andere würden mitkommen, wenns denn am Meer wäre. Ist es aber nicht. Warum findet dort die WM statt? Die anderen Gruppenspielorte sind Istanbul, die Hauptstadt Ankara und Izmir. Alles klar. Aber Kayseri? Dann gehe ich im Web verloren, klickse mich von Link zu Link und von Suchmaschineneintrag zu diversen Seiten durch. „Kappadokien“ ist das Zauberwort an dem ich hängenbleibe. Atemberaubende Bilder von grandiosen Canyons, sich im Kreise drehenden, in Trance tanzenden Derwischen, Ballonfahrten, Höhlenwohnungen, Unesco Weltkulturerbe, Felsenhotels, unterirdischen Kirchen, ja ganzen Städten.
Jetzt denk ich „Doppelwow“, das will ich wirklich sehen. Freunde mailen Fotos und ich bin endgültig „hooked“.
Gefangen im Land der „Feenkamine“ wie die Einheimischen, die merkwürdigen Tuffsteingebilde nennen. Ja, da will ich hin, auch und besonders weil ich merke wie wenig ich über die Türkei weiß. Meine Nachbarn zu Hause in Deutschland, 3 Häuser weiter, sind Türken. Ich grüße sie jeden Tag, sie mich auch. In Berlin war es ähnlich. Sie bilden die größte ethnische Minderheit in Deutschland mit ca. 4 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Als ich aber versuche mehr zu erfahren über Kayseri scheitere ich kolossal. Wiki verspricht mir es gibt die Webpräsenz von Kayseri auf türkisch und englisch. Ich finde die Option jedoch nicht, das heißt ich finde auch keine Infos, keine Unterkünfte in der Stadt. Ich kann kein türkisch, der Translator liefert Schrott und ich merke, dass ich zwar Freunde habe die Hindu, Mandarin, äthiopisch, hebräisch, arabisch, Pakistani und sogar manisch sprechen, aber ich lebe in einer Parallelgesellschaft – ich habe keinen einzigen türkischen Freund. Seltsam. Das wird mir nun zum ersten Mal bewußt. Mein Gemüsehändler ist türkisch, meine Nachbarn auch, ich kenne sie seit Ewigkeiten und weiß gar nichts von ihnen.
In mir erwacht der Sportsgeist. Je mehr Infos die spröde Gegend mir verwehrt, desto hartnäckiger bohre ich nach. Und irgendwann ist es dann so weit. Es steht fest: die Türkei wird mich tatsächlich kennenlernen und wenn ich Glück habe, ich sie auch. Doch darüber im nächsten „trog“ mehr. Kayseri hazir? Ich schon lange!
osb grüßt euch aus küçük türk dünyası
Mal wieder ein toller Text und tolle Bilder. Nur diese Felsphalli finde ich doch etwas obszön.
Nur kein Neid ;-) die reine Natur, die reine Natur.
puh, da ist man paar tage nicht wirklich im internet aktiv und verpasst schon massenweise trogs. sieht auf jeden fall interessant aus :-)