Eigentlich wollte ich dieses Jahr einmal Aussetzen mit den großen Basketballturnieren und vielleicht den Jahresurlaub am Titisee, in Rüdesheim, Hohenschwangau, Mallorca oder einem ähnlichen inländischen Hotspot, an dem ich noch nie gewesen bin, verbraten. Als aber klar wurde, dass Litauen die EM 2011 ausrichtet, waren diese Pläne perdú. Litauen. Litauen, das gelobte Land des Basketballs. Litauen, das Land, in dem Basketball Religion ist und dieser Satz keine Floskel. Das kann und darf man nicht verpassen.
Und mir wurde klar, dass alles, was ich von Litauen wusste, mit Basketball zu tun hatte. Die großen Klubs, die großen Spieler. Zalgiris Kaunas, Lietuvos Rytas, Arvydas Sabonis, Marciulonis. Kurtinaitis. Damals in Hagen. WM, Olympia – das kleine, winzige neongelbgrünrote Land auf der ganz, ganz großen Bühne. Die gräßlich bunten Batiktrikots der paar Litauer bei allen aber auch allen NBA-Spielen, die bei jeder noch so verpixelten Übertragung auf AFN ins Auge stachen. EM-Sieger 2003 gegen Spanien. Mein Verhältnis zu Litauen war orange, fröhlich und absolut unbelastet. Ein Zufall warf ein etwas anderes Licht auf die deutsch-litauischen Beziehungen und ich muss zugeben, ich hatte keine Ahnung. Mehr als ein kurzer Halbsatz aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs war Litauen wohl nie wert. Klar, Nichtangriffspakt und Bruch und so weiter, aber wie gesagt, über die paar Stichworte hinaus hatte ich nichts in meinem Kopf. Ein paar winzige Fragmente von blanken Fakten – aber nichts, was die damalige Wirklichkeit Litauens im Zweiten Weltkrieg wiedergegeben oder gar mit Bildern gefüllt hätte. Ich hatte keine Ahnung.
Ein befreundeter Verleger und ein Frankfurter Autor machten mich auf ein Buch aus einem anderen Frankfurter Verlag aufmerksam. Die Mitherausgeberin des Buches und Tochter der verstorbenen Autorin Helene Holzmann, lebe zudem in Gießen, wurde mir erklärt. So viele Zufälle auf einmal kann es nicht geben. Ich musste mir das also näher ansehen. Das Buch „Dies Kind soll leben“ war sowohl gebunden als auch als Taschenbuch vergriffen, also bestellte ich es mir über ein Antiquariat. Es ist eins dieser Bücher, bei denen man ahnt, welcher Schrecken sich in ihnen verbirgt und dennoch weiss, dass man sie lesen muss (Leseprobe hier). Schlimmer wurde das ganze noch dadurch, dass aus meinem Buch plötzlich 2 eng handbeschriebene Seiten eines Briefes herausfielen. Wer das an wen geschrieben hatte, lies sich beim besten Willen nicht mehr ermitteln, auch der Buchhändler konnte nicht helfen, aber es war deutlich, dass hier Nachkommen von direkt Betroffenen einander dieses Buch geschenkt hatten, von dem es auch eine sehr lohnenswerte Hörbuchausgabe gibt. Ich gebe zu, dass ich feige war und das Buch nach dem sehr privaten Fund erst recht wieder weggelegt habe – zu erschrocken war ich, ohne dass ich exakt erklären könnte wieso. Vielleicht weil der Horror plötzlich 4 Vornamen trug und sich liebevoll siezte. Wenn man dann aber irgendwann die Aufzeichnungen aufschlägt und beginnt das Buch zu lesen, kann man es kaum wieder beiseite legen. Obwohl erst im Nachhinein aufgeschrieben und eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht (das Buch erschien im Jahr 2000, aufgezeichnet hat Helene Holzmann ihre Erlebnisse ab September 1944. Beschrieben werden die Jahre 1941-44 in Kaunas), sind die Schilderungen so eindringlich, so genau, lebendig und detailgetreu, das es manchmal wie eine geradezu filmische Schilderung ist, beinah wie ein Drehbuch, nein, eher wie ein Bilderbuch – nur mit Worten gemalt. Es ist nicht dramatisch, nicht theatralisch, fast wird der konkrete Schrecken, das alltägliche Grauen zu pragmatisch skizziert. Beinahe kann man sich gar nicht vorstellen, wie die Schreiberin trotz des Irrsinns, der bröckelnden Welt um sie herum und des unfassbarebn persönlichen Leids (ihr Mann ist jüdischer Buchhändler und verschwindet spurlos, ihre ältere Tochter wird zunächst verhaftet, dann erschossen) überhaupt noch weiterleben kann, auf der anderen Seite ist es diese fast neutrale Distanz, die einen überhaupt weiterlesen lässt, die das ganze erträglich und begreifbar machen. Geschuldet ist dies wohl der ungewöhnlichen Schreibposition. Helene Holzmann schreibt, als sie bereits keine Angst mehr kennt, weil schon zuviel geschehen ist und sie nichts mehr zu verlieren hat. Und sie schreibt auf den einen Tag hin, von dem sie nun – rückblickend – weiß, dass er kommt: den Tag, an dem alles vorbei ist.
Sie ist aber nicht nur Chronistin einer Zeit in dem entsetzlichen Ghetto in Kaunas, einem der schlimmsten und „effektivsten“ überhaupt, sondern sie wird zur stillen Heldin, indem sie andere Menschen unter Einsatz des eigenen Lebens, vor allem jüdische Kinder, bei sich versteckt oder aus dem Ghetto befreit. Gewissermassen eine Mischung aus Anne Frank und Schindlers Liste.
55 Jahre lang waren diese Aufzeichnungen im privaten verborgen. Mit diesem großartigen Buch, ganz behutsam herausgegeben von Reinhard Kaiser, kamen sie glücklicherweise mit Hilfe der jüngeren Tochter Margarete, ans Licht der Welt. Mit einem Begriff wie „großartig“ muss man sich schwertun bei der Thematik, aber das ist es, was es ist. Großartig. Das Buch und die Frau.
Auf eine andere Weise großartig war unser (trotz hippem Quad auch schon älterer) Vermieter in Siauliai, Petras. Obwohl an der grob behauenen Holzwand in der Jagdhütte die (Zwangs)Einbürgerungsurkunde (1941), seines Großvaters und seiner Mutter hing – Litauer, die damals als Deutsche deklariert und sie alle gegen ihren Willen „Heim ins Reich“ geholt (sprich deportiert) wurden und dabei alles verloren – begegnete er uns völlig vorurteilsfrei und freundlich. Sicher auch keine Selbstverständlichkeit.
Die Spuren des Ghettos hier in der Stadt Kaunas sind heutzutage fast völlig verschwunden, aber morgen an unserem letzten Tag wollen wir vor dem Finale und dem Spiel um Platz 3 raus fahren zum „Fort IX“ – ehemals Konzentrationslager, heute eine Gedenkstätte und Museum.
Auf den ersten Blick fällt nun der Brückenschlag zum Basketball schwer, auf den zweiten eher nicht. Wenn man in einem Sportgeschäft Trainer Jorgen De Linde Lind trifft, kurz mit ihm spricht und ihn schwärmen hört, ebenso wie man einen begeistert grinsenden Svetislav Pesic sieht, der nach all den Jahren an der europäischen Coachingspitze immer noch am glücklichsten wirkt, wenn lernhungrige junge Spieler um ihn herum sind, dann ist es eher einfach. Heute mittag um 12:50 fand das U18 Allstargame statt, vor über 12.000 Zuschauern. Die Jugend Europas von Russland über San Marino und Litauen bis Deutschland (Bogdan Radosaviljevic) spielte gemeinsam Basketball.
Einfach nur Basketball.
P.S.: Sorry, für die Spiegelungen im Foto – uns fehlt hier ein entsprechendes Bearbeitungsprogramm, die Zeichnung aus einem Museum musste aber sein ;-)