Eigentlich muß ich von den Lesern heute im Lebenslauf nachweisliche, einschlägige Selbsterfahrung oder ein fast übermenschliches Maß an Empathie verlangen. Nur wer sich bis in die letzte sirrende Nervenfaser ausmalen kann oder eben weiß, wie es sich anfühlt solche fürchterlichen Zahnschmerzen zu haben, dass man tatsächlich selbst zum Hammer greift, um sich auf den Daumen zu hauen, nur damit der Schmerz endlich nachläßt, kann ungefähr nachvollziehen, wie es ist, ein 46ers Fan zu sein.
Jedes Ding hat seinen Preis und schon lange ist es den Gießener Anhängern klar, dass sie die letzten 4 1/2 Saisons bitter für den süßen Erfolg des Halbfinaleinzugs 2005 bezahlen müßen. Irgendwer hatte in dem sensationellen Jahr die Glückstüte ganz, ganz weit aufgemacht und die 46ers mit vollen Händen beschenkt – allerdings vergessen dazuzusagen, was dann danach kommt. Von damals Chuck Eidsons Kreuzbandriss (selbstverständlich schon vor Saisonstart 2005/2006) zieht sich die endlose Reihe bis zu Maurice Jeffers Handbruch (selbstverständlich wenige Tage nach Ende der Wechselfrist), der letzte Saison schließlich den ersten Abstieg nach 43 Jahren BBL-Zugehörigkeit besiegelte. Dieses Jahr dann von Jo Lischkas Mittelhandbruch im Training vor dem allerersten Spiel bis zu Zo Williams schwerer wochenlanger Verletzung aus dem 2. Heimspiel (gegen Alba).
Und jetzt dann auch noch Teague. Teamkapitän und Motivator Teague. BBL-Topscorer David Teague.
3 Starter, 3 schwere Verletzungen, diese letzte wohl „season ending“. Es dürfte kaum einen Club in der BBL geben, der eine solch jahrelange Liste schwerer Verletzungen seiner Starter aufweisen kann. Schlechtes Karma nennt man das wohl.
Dazu diese Saison noch weitere Krankheiten, OPs, mehrfach Grippe und Verpflichtungsmißverständnisse. Ein junger Trainer, ein junges Team, das eigentlich seit dem ersten Tag schon auf dem Zahnfleisch geht und um sein (Über)Leben kämpft. Die Fans, die mit allem Herzblut versuchen zu helfen. Spätestens nachdem die ersten Spieler letzten Freitag nach dem Hessenderby gegen die Skyliners aus Frankfurt weinend auf dem Feld saßen, weil nach aufopferungsvollem, teaguelosem Kampf das dritte Spiel in einer Woche und das zweite mit nur einem Pünktchen in der letzten Sekunde, verloren ging, sank der Mut auch bei den größten Optimisten.
Seit heute 16 Uhr keimt neue Hoffnung in Mittelhessen. Die LTi Gießen 46ers gaben die Verpflichtung von Center Elvir Ovcina (ehemals Köln und Oldenburg) und Pointguard Rashad Phillips, beide von der Agentur Interperformances, bekannt. Beide Spieler sind schon in Gießen und trainierten heute gutgelaunt in der Osthalle – der nächste Gegner heißt Berlin.
Während eben diese Berliner heute nachmittag zur selben Zeit noch mit geeichtem kleinen Finger die Trinktemperatur ihres Veuve Cliquot und den Salzgehalt ihres frisch importieren Beluga testen und Spieler, Fans und Manager nicht recht wissen, ob man sich für ein läppisches Eurocupspiel aus der Villa motivieren kann, bricht in Gießen ganz leise verhaltener Jubel aus. Solche Luxusprobleme wie die Hauptstädter müßte man mal haben.
Statt wie sonst Google zu bemühen und youtube zu durchforsten, können die meisten 46erFans einfach praktischerweise ihre „Fünf“-DVD abstauben, um Highlights ihres neuen 2,12m Centers Ovcina zu bewundern. Die Osthalle und das wilde Publikum kennt der nämlich schon aus der Viertelfinalserie mit Köln gegen Gießen. Im Fanforum und in der Pressemitteilung werden ihm versteckt höchste Weihen verliehen, ganz einfach mit der Aussage, wie weh er als Gegner immer getan hat. Die ultimative Respektsbezeugung unter Sportlern.
Natürlich ist er mittlerweile 33. Natürlich war seine letzte richtig gute Saison 2007/2008 in Oostende. Natürlich hat er diese Saison erst 5 Spiele bei Polzela in der slowenischen Liga bestritten. Aber er ist unbestritten ein Brett, ein richtiges echtes, lebendiges, aufpostendes 120kg Centerbrett, wie es in der Lahnstadt mindestens seit etlichen Jahren nicht zu sehen war.
Detroit-Absolvent 1,78m PG Rashad Phillips kommt als extrovertierter Weltenbummler (Griechenland, Türkei, Lettland, Portugal, Australien), aktueller MVP und mit dem Spitznamen „The Magician“ direkt aus der Saudi-Arabischen Liga in die heimischen Schneeverwehungen und ist hoffentlich noch annähernd so schnell wie vor gut 10 Jahren, als er als kleines riesengroßes Talent galt. Nicht nur des Wetters wegen muß er sich umstellen, in Deutschland gehts auch auf dem Spielfeld deutlicher rauer zur Sache, als im warmen Königreich. Hoffentlich kriegt er den (Wüsten)Sand schnell aus dem Getriebe, harte Gangarten müßte er von den Straßen seiner Heimatstadt Detroit noch kennen.
„Die Verpflichtungen von Rashad und Elvir sind natürlich unserer Tabellensituation geschuldet. Wir wollten nicht noch einmal, wie in der vergangenen Saison, mehr oder weniger tatenlos zusehen, wie unsere Konkurrenten im Abstiegskampf noch mal spielerisch ‚aufrüsten‘ und punkten und wir selber vielleicht aus Unerfahrenheit zu unentschlossen nachrekrutieren und dann den Kürzeren ziehen.“
sagt Geschäftsfüherer Christoph Syring zu den Nachverpflichtungen und macht deutlich, dass er sich die gelungene finanzielle Aufbauarbeit der letzten Saison nicht noch einmal durch eine sportliche Talfahrt gefährden lassen möchte. Der Manager ist nach eigenem Bekunden mittlerweile stark vom 46ers-Virus infiziert und zeigt jetzt mit diesen Maßnahmen endlich auch auf dem Spielfeld die Krallen. Wir hoffen mit ihm, dass es klappt.
Jetzt muss sich ALBA aber warm anziehen. :-D
Bitte lieber gruebler analysiere doch die beiden Neuen und das neue Teamplay mal für uns nächsten Sonntag. Vor allem da ich die erst in 4 Wochen sehen kann… ;-)
Schwere Aufgabe, aber der Optimismus ist zurückgekehrt. Das Glück muss nach 2005 mal wieder zu uns finden, vielleicht hilft ein Fremdbeteiligter von damals ja, nachdem die eigenen Spieler jetzt alle weg sind…
Nach dem All-Star-Day gehts neu los, hoffentlich ohne weitere Verletzungen.
Sehr schöner Artikel osb ;)
Der Vergleich mit dem Daumen konntest Du treffender nicht bringen. Jeder 46ers Fan wird diese Zeilen zustimmend, schmunzelnd gelesen haben. Wo hab ich mir nicht schon überall hingebissen in der Osthalle der letzten Tage.
Lieben Gruß
Bjoern
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