Allen Iverson spielt in Europa – Allen, please don´t make us question the answer!

Letzten Samstag, später nachmittag, also kurz nach dem Frühstück, in einem wunderschönen Café in Gießen. Mein Handy klingelt – es ist die Nachdenkzentrale aus Berlin. Ein distinguiert-freundlicher Herr bittet um „Iverson – mal durchlesen“ und „ggf. Input“. Ich sage leichtsinnigerweise zu.

Zu Hause dann erwartet mich ein nüchterner, sachlicher, faktisch-korrekter Artikel. Ich lese, hebe an zu tippen……und starre die nächsten 90 Minuten meinen Schatten auf dem Monitor an. Gut, und was also sagt euch das?

Zum ersten, dass die Lampe in meinem Arbeitszimmer diletantisch falsch plaziert ist. Zum zweiten, dass ich ein liebenswerter Mensch bin und den Familienfrieden bei Grueblers daheim bewahren werde, bzw. dafür sorgen, dass sein NBA-begeisterter Bruder ihm nicht für die nächsten 10 Jahre das Weihnachtsgeschenk streicht. Sorry, aber der Artikel klang wie eine trockene Pressemitteilung:

„Es ist nun offiziell: Allen Iverson, mehrfacher NBA-Allstar, vierfacher NBA-Scoring Champ, MVP 2001 wechselt für zwei Jahre zu Besiktas JK Istanbul. Lange hielten sich die Gerüchte. So richtig glauben mochte es niemand und noch ist er nicht in der Türkei gelandet, aber immerhin wird die Vertragsunterzeichnung mit viel Tamtam präsentiert. Allen Iverson ist ein 1,83 großer Point/Shooting Guard aus Hampton, Virgina. The Answer lautet sein Spitzname, Es entspricht dem Hype, den ein Nummer 1 Draftpick (1996) in der NBA erhält. Doch Iverson erfüllte die Erwartungen. MVP im dritten Jahr, vorher alles an Titeln abgeräumt, die ein Rookie abräumen kann, Franchiseplayer der Philadelphia 76ers, einer der besten Alltime-Scorer der NBA.“

Nüchternheit und Distanziertheit sind sicherlich eine Tugend, gerade beim Schreiben, gehen aber bei manchen Themen gar nicht. Eins dieser wenigen Themen ist sicher Allen Iverson. Der kann niemanden kalt lassen, das kann einfach nicht sein, denn er ist für Viele viel: ein genialer Spieler, cooler als cool, ein ungesehener Kämpfer, das personifizierte Schlechte, leuchtendes Vorbild und Held oder schlechter Einfluß, falscher Weg, mieses Image. Nur eins ist er bestimmt nicht: egal. Er brachte Armsleeves, Tatoos, Cornrows, Popkultur, Hiphop und Rap in die NBA. Er brachte Streetball in die NBA. Er brachte David Stern zur Verzweiflung. Der sorgte persönlich dafür, dass – als sein Starstatus auch in der NBA nicht mehr zu verhindern war – Bildern auf Zeitungscovern geairbrushed wurden. Cornrows weg, Tatoos weg. AI war die Antwort auf alles, was Mainstream-Amerika hasste und verabscheute. Für Basketballfans war der kleine Guard (im Leben keine 1,83! Sagen wir 1,79 ;-) ) ihr Held. Wurde in jedem Spiel verdroschen, fiel stand auf, fiel wieder und stand wieder auf, spielte verletzt, fehlte nie, ohne Angst, der Kleinste, der Schnellste, der Unglaublichste von Allen. Fearless ist das Wort, das mir einfällt.

Noch dazu hat er riesigen Einfluß auf die ganze NBA genommen, weltweit auf das ganze Spiel. Hat aus besch….eidensten Startvoraussetzungen heraus schier Unglaubliches erreicht und sich damit an dieser Stelle eine tiefe bloggerische Verbeugung verdient. Respect where respect is due.

Vorausschickend möchte ich sagen, dass ich neben seinen basketballerischen Verdiensten ein klein wenig zeigen möchte, wo er herkommt und warum er deshalb vielleicht ist, wie er ist. Iverson war immer mehr als nur das Spiel, sein Einfluß „larger than life“. Das hier ist also kein Artikel für Schwarz-Weiß-Denker (how ironically fitting) und Leute, die in großen Buchstaben gern einfache Wahrheiten lesen. Auch heißt genaues Betrachten und Versuch zu verstehen weder Gutheißen noch Rechtfertigung, aber Schluß mit dem Kleingedruckten und hin zum Phänomen Allen Iverson.

Allen Iversons Mutter war 15 als sie ihn bekam, der Vater machte sich aus dem Staub und lies die beiden allein in einer Bruchbude die lange Zeit ohne Strom und fließend Wasser war. Später ging er oft nicht zur Schule, weil er auf die kleineren Geschwister aufpassen mußte, während seine Mutter versuchte mit Aushilfsjobs alle über Wasser zu halten. Das mag klingen wie eine Hollywood Storyline, wenn man sich aber vorstellt, dass das die Realität eines kleinen Jungen ist, kann man erahnen, was das verursachen kann. Eine weitere Sache, die wohl für alle Leser unvorstellbar bleibt sind die allgemeinen Umstände. Virginia ist ein klassischer Südstaatenstaat. Mit allem was dazugehört. Allen Iverson wurde ein lokaler Star, starting Quarterback für das Highschoolfootballteam, starting Pointguard bei den Basketballern. Als er das Künststück vollbringt, mit beiden Mannschaften den „State Title“ zu gewinnen, ist er ein Star in den USA. Dann kommt – er ist 17 – der Tag, an dem sich sein Leben für immer verändert. Kurzer Abriss: Es gibt eine Schlägerei in einem Bowlingcenter zwischen Schwarzen und Weißen, verhaftet werden nur 4 Schwarze, es gibt Zeugenaussagen und ein Video, das ihn entlastet. Das Video wird nicht zugelassen, ihm als 17jähriger der Prozeß als Erwachsener gemacht (21 Jahre ist die Volljährigkeit in Virginia), die Anklage lautet nicht auf das naheliegende, sondern ausgerechnet auf einen Tatbestand, der geschaffen wurde um in längst vergangen gewähnten Zeiten, Lynchjustiz an Schwarzen besser bestrafen zu können. Er wird zu 15 Jahren verurteilt. Jeder der „Once Brothers“ gesehen hat, weiß wie gut die ESPN-Serie 30 for 30 ist. „No Crossover“ ist die Dokumentation über die Geschehnisse 1993 in Hampton, Virginia. Kaum vorstellbar für uns hier, diese Rassenproblematik, keine 20 Jahre her, aber doch (damalige) Realität. Als Zweiteiler hier zu sehen (ein absoluter Sehbefehl für alle!):

http://www.worldstarhiphop.com/videos/video.php?v=wshhF2S31MrcUHQxwjvu

http://www.worldstarhiphop.com/videos/video.php?v=wshh2tEL13eXmxL7IY80

Sports Illustrated hat ebenfalls einen sehr guten Artikel: „Southern Discomfort“  (A Virginia town has split along racial lines….). Nicht als Rückblick, sondern aus der damaligen Zeit. Nach dem Schuldspruch, platzte sein Traum Footballprofi zu werden. Sein erster Sport, seine „erste Liebe“ (und so spielte er auch Basketball). Nach dem Tag, glaubte Allen Iverson (zu Recht oder zu Unrecht), dass jeder nur hinter ihm her wäre und so benahm er sich auch. Auf dem Feld und abseits. Genug vom Ausflug in die dunklen Seitenstrassen, aber für mich mußten sie sein, um Iverson gerecht zu werden. Jeder mache sich bitte sein eigenes Bild. You be the judge.

Zurück zum blanken Sport:

Zwei Millionen Dollar pro Jahr in Istanbul? Das mag viel sein für europäische Verhältnisse, für einen Spieler, der dereinst NBA-Maximalverträge bekam, ist es ein Zeichen des Abstiegs, und doch wieder ein Aufstieg. Bereits in seiner letzten Saison in Philadelphia unterschrieb er nur noch für einen Minimalvertrag von 1,3 Mio USD.

Was treibt einen solchen Spieler, nach Europa zu gehen? Nur ein Tapetenwechsel? Vor den Wechselgerüchten drehte sich alles darum, dass Allen Iverson ernsthafte Probleme hat. Steven Smith vom Philadelphia Inquirer schrieb noch im Mai 2010:

„If numerous NBA sources are telling the truth — and there’s no reason to believe they’d do otherwise in a situation of this magnitude — — will either drink himself into oblivion or gamble his life away.“

Es dürfte eher so sein, dass Allen Iverson schlicht nichts anderes kann, nichts anderes gelernt hat und bestimmt noch kein Konzept, wie er sein Leben ausfüllen soll ohne den Sport – und woher auch? Vielleicht rettet ihn der Vertrag bei Besiktas, zumindest für den Moment. Wie endet die Dokumentation? „Allen Iversons story is a sad story with an unwritten ending.“

Auch wenn in deutschen Foren nun der Jubel ausbricht, The Answer live in Braunschweig gegen Göttingen gesehen werden kann, bleiben doch Zweifel. Schafft AI die Transition nach Europa? An dieser sind schon jüngere, formbarere Spieler gescheitert. Oder geht es gut, weil er endlich wieder uneingeschränkter Star sein darf? Besiktas hat mit Lonny Baxter schon einmal in kleinerem Rahmen (für ca. 450.000 USD/Jahr) ein solches Experiment gewagt. Lonny musste früher gehen. Und im Falle von AI gibt es wohl das Problem, dass der Coach ihn nicht haben wollte und ihn nun bereits mobbt.

Wird er im EuroCup einen echten Impact haben? Hält Allen Iverson bei Besiktas durch? Obwohl er nun die „4“ tragen muß, statt der „3“? Wenigstens bis zum Spiel in Braunschweig ja, denn Göttingen twittert gestern erleichtert: „Besiktas ist in Braunschweig eingetroffen. Wir können alle Basketballfans beruhigen: A.I. ist dabei!!!“ Und einige Tickets gibt es noch bei Eventim und an der Abendkasse.

14 Gedanken zu „Allen Iverson spielt in Europa – Allen, please don´t make us question the answer!

  1. Chance verpasst. Wenn man schon die Nummer wechselt, muss man als The Answer doch die 42 nehmen…

    Wollte der Gruebler das echt so blocken? Noch mal Glück aka osb gehabt.

    • Naja… ich glaub OSB hat den fiesesten Langweilerteil herausgepickt. Aber zu meiner Rechtfertigung muss ich ja sagen, dass ich OSB anrief, und sinngemäß äußerter „Du, ich glaub ich schreib da grad Mist“.

    • Nein, nein. Völlig falsch, ganz im Gegenteil, habe nicht den langweiligsten Teil rausgesucht, sondern den Teil, der all die Fakten enthielt die ich ohnehin hätte bringen müßen und war sehr sehr dankbar, dass die mir schon jemand zusammengesucht hatte.

  2. »Er brachte Armsleeves, Tatoos, Cornrows, Popkultur, Hiphop und Rap in die NBA. Er brachte Streetball in die NBA. Er brachte David Stern zur Verzweiflung.«

    Man kann’s auch übertreiben. AI war sicherlich einer der Superstars der letzten Generation, aber bestimmt kein Black Jesus für die NBA.

    • Mit dem Begriff „Black Jesus“ kann ich nichts anfangen. Weiß also nicht, was du monierst. Tatsache ist, dass er all die Dinge in die NBA gebracht hat und viele Leute (u.a. David Stern, aber auch viele TV-Moderatoren und Presseleute) darüber das ganz große K.. gekriegt haben.
      „WHOs AFRAID OF ALAN IVERSON“ so lautete nicht zufällig das Cover der BB-Bibel SLAM zum Beispiel. Und die gestellte Frage: „Why is corporate America afraid of Allen Iverson?“

  3. Eigentlich dürfte ich Iverson nicht leiden können. Dieser Spielertyp – Crossoverkönig und Streetballzocker – kommt bei mir für gewöhnlich gar nicht gut an.

    Aber dann hab ich die NBA Finals 2001 gesehen (Ja, damals hab ich wirklich noch NBA geguckt). Die 76ers waren den Lakers hoffnungslos unterlegen. Defensiv mit Snow, McKie, Raja Bell, Tyrone Hill und Dikembe Mutombo bärenstark, war ihr zweitbester Scorer Matt Geiger. Was macht also AI? Immer dasselbe: Geht zum Korb und kriegt heftig auf die Fresse. Steht auf, macht die Freiwürfe. Geht wieder mit Höchstgeschwindigkeit in die Zone und scheppert zwischen Shaq & Co. herum wie ne Flipperkugel. Aua. Rappelt sich hoch, geht an die Linie. Und so weiter. 5 Spiele lang, 48 Minuten pro Spiel.

    Seitdem lass ich nichts mehr auf den Kleinen kommen. Der Typ hat mehr Mumm als ganze Teams zusammengenommen.

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